Interview mit Dra Aleida Guevara

Wie kommt es, dass eine kubanische Ärztin an Freiwilligenmissionen in Afrika teilnimmt und sich für die Landreform in Brasilien interessiert?

 

AG: In Kuba werden die Ärzte ausgebildet mit dem Ziel, dem Volk zu dienen, und das ist der einzige Herr, dem wir dienen. Bereits zu Beginn unserer Berufslaufbahn akzeptieren wir ihren internationalistischen Charakter, und so ist es normal, dass ich bereit bin, dort zu arbeiten, wo man  mich braucht.

 

Seit mehr als 25 Jahren arbeite ich zusammen mit der Bewegung der Landlosen in Brasilien und bin stolz darauf. Als Lateinamerikanerin denke ich, das ist eine der konsequentesten Bewegungen, und auf der anderen Seite denke ich als Ärztin an die Notwendigkeit einer guten Ernährung insbesondere der Kinder. Die Landreform ist notwendig, damit unsere Völker ihre Bevölkerung ernähren können und dass sich der Traum erfüllt, dass wir selbst die Herren dessen sind, was wir erzeugen, und dass der Raub und der Entzug unseres natürlichen Reichtums keine Fortsetzung findet.

 

Welche Rolle können Che und Fidel im heutigen Kulturkampf zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus spielen?

 

AG Sowohl der Che als auch Fidel sind ein Beispiel für gebildete Menschen, die um die Bedeutung der kulturellen Bildung wussten, um frei sein zu können. Die Bildung befreit dich, erlaubt dir zu verstehen, wo du bist, was du willst und wie du es erreichen kannst. Das Beispiel ihres Lebens regt uns an, treibt uns weiter. Wenn sie es konnten, warum sollten wir es nicht ebenfalls können?

 

„Reichtum schaffen mit dem  Bewusstsein, nicht Bewusstsein schaffen mit Reichtum“ wie Fernando Martínez Heredia (2) es sagte, ein großer Spezialist für das Denken des Che und von Fidel, den wir kürzlich verloren haben….

 

AG: Es wäre ein Traum, dass das menschliche Wesen die Fähigkeit entwickelt, konsequent mit seiner Spezies zu sein, Solidarität und nicht Brutalität zu praktizieren, dass wir einfühlsam und nicht gleichgültig sind,

 

“…dass wir verstehen, dass der größte Reichtum darin besteht, das zu teilen, was wir haben, zum Beispiel ein Lächeln, und nicht nur, das zu geben, was wir zu viel haben.“

 

Versuchen wir, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, aber systematisch werden wir dazu erzogen, jeden Tag individualistischer zu werden und unsere Existenz als ein soziales Wesen, das in Gemeinschaft lebt, zu vergessen. Das Schlimmste ist, dass wir dabei unseren eigenen Lebensraum zerstören und ins Leere blicken.

 

Francois Houtart (3)  analysierte das Konzept des „Buen Vivir“ der Einwohner der Anden, das „Sumak kawsay“, welches Ecuador in seine Verfassung aufgenommen hat. Gibt es etwas Ähnliches im Denken des Che?

 

AG:  Der Che war sehr klar und kohärent in seinem Denken und zeigte mit seinem Leben, was er dachte. Er ist der beste Kommunist, den ich kenne und das Wichtige in seinem ganzen Werk ist das Wohlergehen des Menschen, aber mit Würde. Deshalb haben wir vom Recht auf Arbeit gesprochen, vom Recht auf eine würdige Wohnung, auf ein kostenfreies Gesundheits- und Erziehungswesen. Wir sprechen vom Respekt und wissen, dass wir uns diesen erkämpfen müssen mit viel Arbeit und Widerstand und dass wir immer bereit sein müssen, diesen zu verteidigen.

 

Frau Doktor Guevara, wie könnte man einen Revolutionär definieren?

AG: Ich glaube, dass unser Fidel den wahren Revolutionär in seinem Konzept der Revolution charakterisierte: mit einem ethischen Anspruch, Ehrenhaftigkeit, Sensibilität, Respekt vor dem Volk, Hingabe für die Sache, mit einer großen Fähigkeit zu lieben.

 

Im Film „Cuba Sí“ (1961) von Chris Marker erklärt der junge Fidel, dass die Franzosen begreifen sollten, dass die politischen Geplänkel kein grundlegendes Problem gelöst haben und dass die herrschenden Klassen bis zum Faschismus gehen können, während man  in Kuba  eine Revolution mit dem Ziel des Sozialismus  geschaffen hat. Wenn man den heutigen Staatsstreich gegen den Sozialstaat in in Frankreich betrachtet: Hat diese Erklärung ihre Aktualität verloren?

 

AG: Das Wichtige ist, wie sich das französische Volk fühlt. Sind sie glücklich, mit dem, was sie haben? Fühlen sie sich sicher? Wie sehen sie ihre Zukunft?

 

Ich lebe in einer anderen Gesellschaft, die nicht perfekt ist, die sich aber darum bemüht, menschlich zu sein, und die es uns erlaubt, zu reifen und aus unseren Irrtümern zu lernen und sie zu korrigieren.

 

Bei uns gibt es keine Wahlparteien –  es gibt das Volk, das seine Kandidaten an der Basis bestimmt, das Volk ist der unbestrittene Hauptprotagonist. Vielleicht wäre es gut zu analysieren, welche Rolle diejenigen bei der Bewusstseinswerdung haben, die sich „links“ nennen. Mir gefällt die belgische Partei der Arbeiter gut, sie wächst, weil das Volk offensichtlich den Wechsel herbeisehnt. In diesen Zeiten ist es wichtig, Vertrauen ins unsere Bevölkerungen zu haben, wir müssen zeigen, was wir wollen und warum es wichtig ist, es zu tun. Was brauchen wir? Wir brauchen eine für alle erreichbare Bildung, wir können ihre Privatisierung nicht zulassen, ein gutes Gesundheitswesen ohne Kosten für den Patienten. Warum lasst Ihr in euren Ländern zu, dass Krankenhäuser geschlossen werden, oder dass sie nicht angemessen funktionieren und Leute zwingen, Lösungen im privaten Sektor zu suchen? Und die Wohnung? Wenn Eure Regierungen all das und noch mehr garantieren würde, wäret ihr bestimmt glücklich, wenn dies nicht der Fall ist, müsst ihr eben  andere Lösungen suchen – aber nur Ihr selbst könnt das tun!

 

Also missbrauchen wir in  Europa den Begriff „sozialistisch, Sozialismus“ ?

 

AG: Ich möchte nicht zu direkt werden, aber wenn ich in euren Landen bin, nehme ich keine Einheit wahr. Wir können es uns doch den Luxus nicht leisten, uns zu dividieren. Wir sind doch schon in der Minderheit, was zum Teufel treiben wir? Sozialismus heisst Respekt vor dem Volk, Lebensfülle und vor allem Einheit. Solange es nicht so ist: wo werden wir die Kraft finden, die Realität zu verändern?

 

Einige Freunde in Kuba sagen mir, dass ihr nur eine Partei habt, die aber die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung verteidigt. In Europa gibt es viele Parteien mit verschiedenen Namen, die aber nur eine einzige Partei sind, nämlich die Partei des Kapitals…

 

AG: Damit bin ich völlig einverstanden.

 

„Seitdem die Sowjetunion verschwunden ist, hat sich der Kapitalismus zu einem noch erbarmungsloseren und brutalerem System entwickelt, da er keine Konkurrenz mehr hat“

 

Frei Betto sagt: „Wir müssen uns entscheiden, ob wir das kapitalistische System oder die Menschheit retten wollen“ (4). Was sind die Alternativen zum Kapitalismus heute?

 

AG: Seitdem das  europäische sozialistische System und vor allem die Sowjetunion verschwunden ist, hat sich der Kapitalismus zu einem noch erbarmungsloseren und brutalerem System entwickelt, da er keine Konkurrenz mehr hat. Deshalb ist es nicht mehr wichtig, ein öffentliches Gesundheitssystem zu erhalten, genauso wenig, ein kostenloses und gutes Bildungswesen, man  privatisiert gigantisch die sozialen Errungenschaften, welche in einem jahrzehntelangen Kampf der Arbeiter  erkämpft worden waren, und umso schlimmer ist die Gleichgültigkeit der Arbeiterklasse all dem gegenüber…

 

Warum denkst du wohl, hat die Weltgesundheitsorganisation in meinem Land um Hilfe gebeten,  um die Ebola-Epidemie zu beherrschen?  Eben deswegen, weil mein Volk mit ethischen Werten zu Solidarität, Würde und Liebe erzogen worden ist. Deshalb waren es kubanische Ärzte, die ihr Leben riskiert haben, weil sie sich bewusst sind, dass das Opfer eines Menschen oder eines Volkes keine Rolle spielt, wenn es um das Schicksal der Menschheit geht.

 

Aleida, wie sehen Sie die kubanische Jugend – die ja geboren wurde nach dem Sieg der Revolution und die diese manchmal als selbstverständlich sehen?

 

AG: Mit den Jungen muss man ständig arbeiten, man muss ihnen zuhören, man muss ihnen Verantwortung übertragen und ihnen den Weg zeigen, aber immer, indem wir mit unserem persönlichem Beispiel vorangehen. Die Jugend ist die Hoffnung und gleichzeitig leider diejenige, auf die der größte Druck ausgeübt wird seitens derjenigen, die dem revolutionären Prozess Schaden zufügen wollen. Es ist wichtig, dass ihnen alle Informationen zugänglich gemacht werden. Als zum Beispiel kürzlich eine ausgezeichnete Fernsehsendung gezeigt wurde über den Kampf gegen die Banditen, die sich nach dem Triumph der Revolution  erhoben haben, sahen sie ihre Väter und Großväter porträtiert, die an dieser Heldentat teilgenommen haben, und die Jungs waren voll von Respekt und Bewunderung für unsere Bauern, unser Heer und unsere Milizen. Ich glaube, wir haben eine gesunde Jugend, aufnahmebereit und in ihrer Mehrheit patriotisch und revolutionär.

 

Im Dezember 2016 habe ich auch Fernando Martínez Heredia gefragt, ob es Anlass gibt,  besorgt zu sein über eine mögliche Entpolitisierung der kubanischen Jugend, wie sie leider in den kapitalistischen Ländern vorherrscht. Der kubanische Philosoph bestätigte mir, dass im Kapitalismus darauf hin gearbeitet wird, die Massen zu entpolitisieren und zu idiotisieren – nicht um ihnen ein einheitliches Denken aufzuoktroyieren, sondern um ihnen überhaupt das Denken auszutreiben. Aber er beruhigte  mich, dass die kubanische Jugend kritisch und vorbereitet sei. Nach dem physischen Tod des Comandante, riefen viele spontan: “Ich bin Fidel“.

 

AG: Unser geliebter Freund Fernando ist ein weiser Mann.

Wir schreiten weiter, und es sicher, dass der Schmerz über den Verlust des Vaters aller Kubaner sich in Kraft und schöpferische Energien umwandeln wird.  Eines Tages werden wir in der Lage sein, den Menschen zu sagen: Ihr werdet sehen, dass ein Zurückschreiten in unserer Revolution nicht möglich ist, ruhig Blut, wir setzen unser Werk fort, die Zukunft ist sicher.

Wie schön,  solche Worte zu hören!

1964 fragte ein Journalist im französischsprachigen Schweizer Fernsehen den Che, ob sich etwas an der Haltung der USA und Europas in Bezug auf Kuba verändert habe. Ich stelle Ihnen heute die gleiche Frage.

 

AG: Nein, sie träumen weiter, die größte der Antilleninseln annektieren zu wollen, sie verstehen nicht, dass wir „lieber im Meer versinken als dass wir den Ruhm verraten,  den wir erlangt haben“. Wenn du Dokumente suchst, die vom Admiral der USA herausgegeben wurden in der Zeit, als Kuba noch eine spanische Kolonie war, wirst du sehen, dass sie die gleichen Methoden wie heute anwenden: eine wirtschaftliche und eine See-Blockade, um die Insel in Hunger und Krankheit zu stürzen, um so die Bevölkerung zu dezimieren und um die Insel übernehmen zu können, weil sie uns noch nicht als ein widerständiges und unbeherrschbares Volk kennen gelernt hatten.

 

Könnten wir  ein bisschen über die aktuellen Aggressionen reden, wie zum Beispiel den Versuch, junge Studenten und Revolutionäre in Kuba anzuwerben, oder über den Putsch in Venezuela, wie immer organisiert von Washington zusammen mit  unseren Medien in Europa? 

 

AG: Das sind keine neuen Aggressionen, sie nutzen weiterhin Geld als Mechanismus der Überredung –  natürlich können sie nur die kaufen, die keine Ethik haben. Man muss sich der Stärke des Feindes bewusst sein, wie der Che sagte: „Dem Yankee-Imperialismus kann man nie trauen, nicht ein bisschen.“ Der Fall Venezuela ist etwas anderes, es ist der höchste Ausdruck von Verzweiflung, des völligen Mangels an Ethik dieser Leute. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet, ein Kinderkrankenhaus anzuzünden? Kann man da noch von menschlichen Wesen reden? Für mein Volk ist das Leben eines Kindes heilig, ich verstehe und akzeptiere nichts, was das Leben eines Kindes in Gefahr bringt, und ich möchte solchen Personen nicht persönlich begegnen, weil ist da vielleicht die Kontrolle verlieren könnte…

 

Wie analysieren die Kubaner die Herstellung „eines arabischen Frühlings“, der Opposition in Syrien, usw.?

 

AG: An erster Stelle können wir irgendjemanden in Europa fragen: Was würden Sie fühlen, wenn ein Heer irgendeines Landes der sogenannten Dritten Welt sich in Ihre inneren Angelegenheiten einmischt? Wenn sie beginnen, Bomben auf Wohnhäuser und Krankenhäuser zu werfen? …

 

„Was würden Sie von Personen denken, die jeden Tag schreckliche Bilder sehen und die nicht fähig sind, von ihren Regierungen zu fordern, dass diese aufhören, die Verantwortlichen ökonomisch zu unterstützen?“
… die Völker selbst sind die Einzigen, die ihre inneren Konflikte lösen können, niemand hat das Recht, sich darin einzumischen. Unser Benito Juárez sagte: „Der Respekt des fremden Rechts ist der Frieden“. Die Manipulation unserer Leben, die Desinformation ermöglicht  eine Verwirrung bei den Leuten. Der Respekt ist fundamental, wir können und sollen in Frieden leben.

 

Aleida, wir brauchen Ihre Hilfe. Hier in Europa verlieren wir die Werte. Wir sind so arm, dass uns nur das Geld bleibt. Der Che sprach von der Schaffung eines neuen Menschen (6), von Werten, die nicht aus „Metall“ sind. Wie schafft man diesen neuen Menschen in Kuba? War es möglich, die Umstände zu überwinden?

 

AG: Liebe Freunde, wie der Che erklärte, wird der neue Mensch nie ein abgeschlossenes Produkt sein, jedes Mal wenn wir die Gesellschaft perfektionieren, müssen wir fähig sein, selber als menschliche Wesen zu wachsen, das ist die Garantie, das Nötige zu verändern. Wir sind auf diesem Weg, daran arbeiten wir jeden Tag.

 

Ganz vielen Dank dem kubanischen Volk, für sein Beispiel, seine Würde, seine Liebe und internationale Solidarität, wir haben  noch so viel  zu lernen! 

 

* Andrea Duffour ist Mitglied des Comité Nacional der Vereinigung Schweiz-Cuba  www.cuba-si.ch

 

Aleida Guevara ist Ärztin und arbeitet im Kinderkrankenhaus William Soler in Havanna. Sie ist unter anderem Autorin von Dokumentarfimen: Chávez, Venezuela und das neue Lateinamerika (2004), Ausencia Presente (2006), MST: Der Samen der Hoffnung (2008), Interview von Aleida Guevara mit Joao Stédile, nationaler Führer des MST, Brasilien, Tochter von Aleida March und Ernesto Guevara. Direktorin des Studienzentrums Che Guevara.

 

 

Foto:  Italo Cherubini,  Friburgo 19 Sept. 2017

 

 

 

Erste Veröffentlichung (Original, auf Spanisch): Le Monde diplomatique, Okt.  2017  und  www.cuba-si.ch/
Deutsche Übersetzung:  Angelika Becker, vom Netzwerk Kuba, Berlin,  http://www.netzwerk-cuba.de/

(weitere Übersetzungen auf Italienisch / Franz./ Engl/ Russ/ Griech/ Türk/ Bulgar/ Serbisch/ Arabisch sind in Bearbeitung.)

Veröffentlicht unter Kultur, Schweiz

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