Stimmungsbericht aus Guantánamo

Eine seltsame Stimmung in Guantánamo, dem Einfallstor Cubas für die meisten Hurrikans: alle warten auf IHN: kommt er, kommt er nicht? Kommt er vorne rein oder hinten rein? Kommt er schwach oder schon angeschwollen stark? Und wie stark? Mit Donnern und Dröhnen oder auf leisen Sohlen, überraschend? ISAAC kommt! Aber wann? Warten! Seit Tagen grosse Hitze, immer so 35 Grad, ohne Sonne oder mit Sonne. Meistens mit. Gestern Freitag hat ER seine Kundschafter aus Haiti schon mal vorgeschickt: kleine Windböen, harmlos doch dräuend, dann wieder stehende Luft und Feuchtigkeit, die Hemden kleben, die Hosen kleben, die Unterhosen, alles klebt. Das Leben lebt weiter, eine Spur langsamer, doch geschäftig. Die einen verkleben die Scheiben, kleben auch sie, vernageln die Häuser. Andere sitzen davor, spielen Domino: So tun als wäre nichts: IHM nur nicht ins Auge sehen, das macht ihn bloss wütend. Einfach weiterspielen, nicht von ihm reden. Respekt, Señor Isaac, doch lass uns in Ruhe! – Ruhe auch in den Strassen, weniger Leute unterwegs, die Musik gedämpfter, alle haben vorgesorgt und wegversorgt: die Nähmaschine bei Nachbarn, die Stereoanlage bei Verwandten. Die haben sichere Dächer, Häuser aus Beton, schwere Ziegel. Darüber hinaus wird überall vorgekocht, ins Trockene gebracht, Vorrat geäufnet: Reis und Bohnen, Kaffeepulver, Süßigkeiten, Rhum: Wenn ER kommt, gibt’s Grund zum Trinken und Schmausen mit Familie und Freunden, zum teilen und festen bei verriegelten Türen und Fenstern. Arbeitsfreie Tage! Vorfreude! Die Spannung steigt. Seit heute Samstag gibt’s Sondersendung über Sondersendung in Fernsehen und Radio. Die Defensa Civil ist seit Tagen mobilisiert, Evakuationen sind geplant: Menschenleben zu schützen, Schäden an Land und Infrastruktur zu vermindern, alles wird vorbereitet, bereitgestellt, Blutkonserven und Notfallbetten in den Spitälern, Schwangere und Mütter mit Säuglingen an sichere Orte gebracht. Satellitenbilder verfolgen IHN nun Minute auf Minute, vermessen ihn, teilen ihm Daten zu: Höhe, Radius, Position, Richtung, Geschwindigkeit, Hektopascal, Temperatur. Die Meteorologen werden zu Kriminalkommissaren, Isaac zum Verfolgten: Ja, mach dir nur keine Illusionen! : deine Gene und Chromosomen kennen wir nun bis ins letzte Detail! – "Wird er auch sieben Söhne haben?" – geht mir durch den Kopf – und "werden diese vielleicht noch muskulöser sein, noch stärker, noch kräftiger, noch potenter? Und werden sie ihre Männlichkeit noch männlicher manifestieren wollen?" Ja, wie war das schon mal mit Isaac, jenem Helden aus der Bibel? – Würde jetzt nachschauen, schnell mal den Computer starten, Wikipedia fragen, dort drüben im alten Europa, doch nein, ist’s wirklich wichtig? Unschlüssig. Nachschauen-Können, dieses gewohnte wissen wollen: "Isaac", seine Geschichte und die Fakten, Erforschtes statt bloss Erinnertest. Was soll’s! Jetzt haben Server und Computer anderes zu tun: Isaac wird hochgerechnet, mit Modellen verglichen, angenähert, extrapoliert, gescannt und bis in die abgrundtiefsten Ebenen tomografiert. Mit Stolz wird am Fernsehen gezeigt, wie dieser unberechenbare Riese mit Hilfe modernster Technologie zwar nicht gezähmt, doch berechenbar gemacht wird. – Wirklich berechenbar? – S‘ ist 11Uhr37, Samstagmorgen, die Zeit ist genau, die Verspätung offensichtlich: Isaacs Techtelmechtel in Baracoa hat alle getäuscht: statt um 10 Uhr in Maisí, der östlichsten Schnauze des Kaiman, hat Isaac die Insel via Imías erreicht, linksherum, 47 km daneben, immerhin! Respekt vor soviel unberechneter Hinterlist! – Cubavision, der nationale Fernsehsender, übermittelt das Communiqué der Defensa Civil: "Heute um 11Uhr47 ist ISAAC via Imias ins Staatsgebiet von Cuba eingedrungen". ER IST ALSO DA!

Samstagmittag und abend: Es regnet, manchmal schwach, zeitweise zünftig stark, doch Isaacs Lungen scheinen etwas atemlos, ein verbrauchtes Lüftchen. Eine solche Kombination von respektvoll-freudigem Empfang und starker technologischer Gegenwehr hat er wohl nicht erwartet.

 

PS  (Montag, 27. August 2012): In Baracoa und in San Antonio del Sur haben Isaac’s Wassermengen einige Schäden angerichtet, Häuser überschwemmt, vier Häuser zerstört. Auch aus andern Provinzen Cubas werden Niederschlagsschäden gemeldet. Menschen kamen durch den Tropensturm nicht zu schaden. Cuba ist glimpflich davongekommen. Isaac zieht Richtung USA weiter. What about civil defense there?

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