Ohne Hast und ohne Pause

Wahlen in Cuba heben sich wohltuend von den karnavalesken und millionen- bis milliardenschweren Kampagnen in den meisten anderen Ländern ab. Der Eintrag ins Wahlregister erfolgt automatisch, die Wahllokale sind in unmittelbarer Umgebung des Wohnsitzes und die Urnen werden von SchülerInnen „bewacht“. Die KandidatInnen stellen sich ihren StimmbürgerInnen in öffentlichen Veranstaltungen und Besuchen vor und ihre Lebensläufe werden in öffentlichen Lokalen ausgehängt, ein A4 Blatt mit Portraitfoto gedruckt in schwarz-weiss. Für die Gemeindewahlen werden die KandidatInnen pro Bezirk in öffentlichen Versammlungen gewählt (mindestens zwei pro Sitz) und für Prozinz- und Parlamentswahlen zur Hälfte in den gewählten Gremien und zur anderen Hälfte in einer Komission in der die verschiedenen Massenorganisationen vertreten sind. An diesem Mechanismus wird oft Kritik geäussert und dabei übergangen, dass Partei-, Verbands- und Interessenklüngelei in praktisch allen Ländern über Kandidaturen entscheiden. Bemerkenswert auch die Rolle der kommunistischen Partei in diesem Prozess, offiziell gar keine. Parteimitgliedschaft ist keine Bedingung für eine Kandidatur, und lange nicht alle Gewählten haben ein Parteibuch. Während die Lokalregierungen für 30 Monate gewählt werden, beträgt die Amtsperiode für Prozinz- und Nationalparlament fünf Jahre, kann aber laut Gesetz jederzeit enden, wenn dies mehr als die Hälfte der WählerInnen wünschen. AbgeordneteR zu sein ist vor allem eine Verpflichtung neben der „normalen“ Arbeit und wird nicht bezahlt. Neben den beiden regulären Sitzungswochen pro Jahr im Juli und Dezember sind die Komissionen und ihre Mitglieder durchs ganze Jahr aktiv und stehen im Kontakt mit ihren Wahlbezirken und Themenschwerpunkten. In den vergangenen Parlamentsessionen war vermehrt zu beobachten, wie Parlamentsabgeordnete MinisterInnen kritische Fragen stellten und die versprochenen Verbesserungen überprüfen, eine Stärkung der Rolle der gewählten VolksvertreterInnen gegenüber den ernannten FunktionärInnen.

 

Die 14 Prozinzparlamente wählen ihre Leitung und Regierung, und dasselbe tut die Nationalversammlung, der 612 Personen angehören. Diese Wahlen, vor allem für den 31 köpfigen Staatsrat, den Parlamentsvorsitz und den Posten des ersten Vizepräsidenten wurden ebenso mit Spannung erwartet wie die Wahlbeteiligung und das Abschneiden der verschiedenen KandidatInnen.

 

Interessante Wahlresultate

 

Während im November 94% der Stimmberechtigten an den Gemeindewahlen teilnahmen, gaben im Februar 90.88% ihre Stimme ab. Dazu kommen knapp 6% leere und ungültige Stimmen. Im Vergleich zu den letzten Wahlen im Jahr 2008 haben die „Nichtstimmen“ um rund 50% von 9 auf 14% zugenommen. Dies nun alleine auf eine mögliche zunehmende Unzufriedenheit zurückzuführen, wie viele im Westen dies gerne tun würden, greift wohl etwas zu kurz. Nicht mehr im Land ansässige Stimmberechtigte, die nach wie vor im Register sind, das Abnehmen des sozialen Druckes zur Stimmabgabe und die stärkere demografische Präsenz der jüngeren und tendentiell wahlapatischeren Generation dürften weitere, wenn auch nicht die einzigen Ursachen sein.

 

 

Im Gegensatz zu vergangenen Urnengängen wurde diesmal auf die Promotion der „Stimme für alle“ (KandidatInnen) verzichtet, mit dem Resultat, dass diese Option „nur“ noch von 81% der gültigen Stimmen (gegenüber 91% vor fünf Jahren) ausmachte. 15 KandidatInnen erhielten weniger als 80% der abgegebenen Stimmen und eine gar weniger als 70%. Es ist nicht auszuschliessen, dass irgendwann einE KandidatIn die obligaten 50% nicht erreicht. Bemerkenswert auch, dass dieser geringste Zuspruch in demselben Stimmbezirk in Camagüey zu verzeichnen war in dem der dortige Parteisekretär rund 94% der Stimmen erhielt. Ähnliches in der Altstadt von Habana, wo der paradigmatische Restaurator Eusebio Spengler Leal zwar 88% der Stimmen erhielt (deutlich weniger als vor fünf Jahren), seine 4 MitkandidatInnen aber nur zwischen 73 und 74% – ein klares Zeichen an die zuständigen Stellen, dass im Tourismusmagnet Alt Habana einiges im Argen liegt.

 

Eine weitere Neuigkeit war, dass alle gewählten ParlamentarierInnen aufgefordert wurden, eine Liste mit ihrem persönlichen Vorschlag für den Staatsrat einzureichen, wobei Frauen, Junge, Hautfarbe und Wohnort zu berücksichtigen waren. Aus allen Vorschlägen wurde dann die Liste erarbeitet, die dem Parlament zur Annahme unterbreitet wurde.

 

Dass gewählte Ämter und Regierungsposten die Demografie (sprich mehr Jugend), den Regenbogen (sprich mehr nicht-weisse) und die Geschlechter (sprich mehr Frauen) wiedergeben müssen, ist ein historisches Anliegen des cubanischen Prozesses, dem Raul Castro hohe Priorität einräumt. Die Daten dazu sind in der Tat eindrücklich.

 

Generationenwechsel und Frauenpower

 

Auf Provinzebene beträgt das Durchschnittsalter 47 und ein Jahr mehr im Nationalparlament. Waren vor fünf Jahren knapp zwei Drittel der Abgeordneten neu im Amt, sitzen diesmal gut zwei Drittel zum ersten Mal in Saal. Fast zwei Fünftel der Abgeordneten bezeichnen sich laut offiziellen Angaben als Schwarze oder MestizInnen, eine annähernd proportionelle Vertretung zur Gesamtbevölkerung.

 

10 der 14 Provinzen werden nun von Frauen regiert und in der Hälfte besetzen Frauen das Vizeamt. Neu sind im Nationalparlament 49% (vorher 42%) der Abgeordneten Frauen und im Staatsrat sind neu 13 (42%) Frauen (vorher 8 – 26%) und in seiner siebenköpfigen Spitze sitzt neben der bisher einzigen Frau (der Rechnungsprüferin Glady Bejerano) neu auch die Parteisekretärin der Hauptstadt, Mercedes López.

 

Die Neubesetzung des Parlamentspräsidiums, nachdem Ricardo Alarcón nicht mehr im Parlement sitzt, war ein erstes Traktandum. Die Wahl von Esteban Lazo ist zwar kein Generationenwechsel, da er bereits Vizepräsident war, im Politbüro sitzt und auf eine langjährige Parteikarriere zurückblickt. Aber die Symbolik des ersten schwarzen Parlamentspräsidenten in der Geschichte Cubas, der in seiner Jugend als Zuckerrohrschneider arbeitete, ist bemerkenswert. Begleitet wird er in seiner Aufgabe von zwei Frauen.

 

Die Wahl von Raul Castro für eine weitere Amtsperiode von fünf Jahren wurde allseits erwartet. Dafür trieb die kurze Rede des frischgewählten Abgeordneten Fidel Castro vielen die Tränen in die Augen. Wie Raul stellte er klar, dass dies seine letzte Amtsperiode ist und die Zeit der Übergabe gekommen ist.



 

Die Wahl von Miguel Díaz Canel-Bermúdez zum ersten Vizepräsidenten kam nicht unerwartet. Díaz Canel ist bekannt als kompetent, tolerant, bescheiden und effizient. In seiner Heimatprovinz Villa Clara, wo er Parteisekretär war, ist er nach wie vor populär und erhielt in dieser Wahl knapp 94% der Stimmen (und damit rund 15% als seine beiden MitkandidatInnen). Seine Versetzung nach Holguin erlaubte es ihm weitere Lokalerfahrung zu sammeln, ehe er 2009 nach Habana gerufen wurde und in wenigen Jahren für eine tiefgreifende Reform im höheren Bildungswesen verantwortlich zeichnete. Seit über 20 Jahren gehört er dem Zentralkomitee der Partei an und sitzt seit 2003 im Politbüro. Vieles deutet darauf hin, dass er 2018 die Nachfolge von Raul Castro antritt, der in seiner Rede klarmachte, dass dies seine letzte Amtsperiode ist. Einerseits weil der dann 86 Jahre alt sein wird, andrerseits weil niemand mehr als zwei Amtszeiten denselben Posten innehalten darf.

 

In seiner Rede unterstrich Raúl Castro ein weiteres Mal, dass er „weder gewählt wurde um in Cuba den Kapitalismus erneut einzuführen, noch um die Revolution zu übergeben, sondern um den Sozialismus zu verteidigen, zu erhalten und zu verbessern“, dass in den kommenden Jahren tiefgreifende Reformen des Modells anstehen und er anstrebt, ein Land mit einer Vision mit Horizont 2030 zu hinterlassen. Castro kündigte ebenfalls an, dass vor jedem Parteikongress eine breite Befragung der gesamten Bevölkerung durchzuführen ist. Wird der Fünfjahresrythmus der Parteikongresse eingehalten, würde der nächste 2016 stattfinden und sicher auch in diesem Bereich den Generationenwechsel vorantreiben.

 

 

 

 

 

Cuba nach Chávez

 

Wenige Tage danach wurden kurz nach vier Uhr nachmittags alle Medien gleichgeschaltet, und von da an beherrschte (neben dem Baseballweltcup) nur ein Thema die Gespräche – Hugo Chávez hatte den Kampf gegen den Krebs schliesslich verloren.

 

Die Betroffenheit der Leute geht weit über die offizielle Staatstrauer und die Reise von Raúl Castro nach Venezuela hinaus. Die Leute nahmen Chávez als einen der ihren wahr, einer der die Dinge beim Namen nannte, der solidarisch und sensibel war. Die Leute litten mit ihren venezolanischen FreundInnen, bangten um ihre Angehörigen und Bekannten, die dort im Einsatz sind. Hunderttausende, wenn nicht Millionen (und davon gibt es in Cuba nur 11) defilierten am internationalen Frauentag in Städten an Fotos von Chávez vorbei, traurig, ernst, weinend … an vielen Orten standen die Leute auch nach den vorgesehenen 12 Stunden noch Schlange. An diesem für Habana kalten Abend standen wir über eine Stunde in einer Reihe mit Leuten, die aus einem Quartier kamen, aus einer Fabrik, von der Arbeit, viele Jugendliche, Eltern mit Kindern und zogen an den beleuchteten Portraits von Che und Camilo und dem Fotos von Hugo Chavez vorbei.



Venezuela ist der wichtigste Handelspartner Cubas. Diese Handelsbeziehungen gehen weit über die vereinfachte und tendenziöse „Milliardenhilfe von Venezuela für Cuba“ hinaus, die nicht nur von bürgerlichen Medien stetig wiederholt wird. Cuba hatte und hat etwas, was Chávez für seine Sozialprogramme dringend benötigt/e, SpezialistInnen in Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft, Sozialarbeit, Sport, Kultur, etc. die sich – im Gegensatz zu vielen lokalen Kräften – nicht scheuten, in abgelegenen Gebieten und Slums zu arbeiten. Cubanische Arbeitskraft ist ein wesentlicher Teil der imposanten sozialen Errungenschaften Venezuelas in den letzten Jahren (einige nennen die Umverteilung von Öleinkommen „Populismus“) und dies wurde mit Öl abgegolten. Eine neue Form von Süd-Süd-Kooperation die auf den jeweiligen Stärken der beiden Länder und stabilen Preisen statt spekulativen Blasen beruht.

 

Venezuela ist bei Weitem nicht das einzige Land, an das Cuba Dienstleistungen verkauft (andere sind z.B. Südafrika, Angola, Algerien, aber auch Katar und Portugal), aber bei Weitem der wichtigste „Markt“. In diesem Sinn ist die Stabilität in Venezuela kurz- und mittelfristig für Cuba vital. Das politische Testament von Chávez und die Kraft seines Vermächtnisses in die Hände von Nicolas Maduro und einer geeinten Partei gibt dem Land ein paar Jahre Zeit, um die seit jeher angestrebte und bereits begonnene Diversifizierung seiner Handelspartner und die internen Reformen zur Ankurbelung der Wirtschaft – ohne die sozialen Errungenschaften zu verlieren – weiter voranzutreiben.

 

Somit ist der Tod von Hugo Chávez für Cuba zwar ein Moment der tiefen Trauer, aber keine unmittelbare Bedrohung.

Bericht unseres Korrespondenten in Havanna / März 2013

Veröffentlicht unter Aktuell

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